1. Ursula Le Guin’s The Dispossessed: Kritik an der Utopie

The Dispossessed (deutscher Titel: Planet der Habenichtse1) ist eins der meistbeachteten Werke der kalifornischen Science-Fiction Autorin Ursula Le Guin und gilt als ein bedeutendes Werk der utopischen Literatur, das mit den wichtigsten Science-Fiction Preisenwie dem Nebula Award oder Hugo Award ausgezeichnet wurde. Der 1974 erschiene Roman beschäftigt sich mit utopischem Denken, bricht jedoch mit der Tradition der literarischen Utopie. Obgleich sich verschiedene Kommentatorinnen nicht einig sind, wie genau ihr Werk einzuordnen ist, herrscht Konsens darüber, dass The Dispossessed einen entscheidenden Beitrag zum Utopiediskurs darstellt. Der Roman spielt mit utopischen Gesellschaftsentwürfen ohne diese als perfekt darzustellen: Auf dem utopischen Planeten Anarres gibt es Reibungen, Konflikte, Zweifel, Zwiespalt, Dilemmata – es werden nicht nur die positiven Aspekte der Ideale beschrieben, nach denen die Bewohnerinnen dieses Planeten leben, sondern auch deren Fehlerhaftigkeit spielt stets eine entscheidende Rolle. Ursula Le Guin ist mit diesem Werk eine Vorreiterin einer Entwicklung im Utopiediskurs, in welchem in den 1970er Jahren zahlreiche Romane hervorgebracht wurden, in denen mit den typischen Erzählmustern der traditionellen literarischen Utopie gebrochen wird. Der Roman verhandelt gesellschaftspolitische Themen und stellt ein Gedankenexperiment dar, in welchem ein anarchistisch-sozialistisch geprägtes System einem kapitalistischen System gegenübergestellt wird. Die Geschichte geht den Frage nach: Was passiert nach einer Revolution? Woran scheitert eine Revolution und woran das utopische Denken?

Diese Arbeit wird die Frage bearbeiten, wie The Dispossessed einzuordnen ist. Zunächst bietet Kapitel 2 eine inhaltliche Zusammenfassung des Romans und es wird skizziert, warum das Werk ein wichtiger Beitrag für den Utopie-Diskurs darstellt. In Kapitel 2.1 wird dargestellt, inwiefern The Dispossessed Merkmale der traditionellen Utopie aufweist und welche Unterschiede hervorstechen. In Kapitel 2.2 wird gezeigt, dass Le Guin’s Werk auch einige dystopische Aspekte aufweist, aber dennoch nicht als Dystopie bezeichnet werden kann. Kapitel 2.3 befasst sich mit dem Begriff der kritischen Utopie, mit welcher The Dispossessed häufig definiert wird. Kapitel 3 wird die Erkenntnisse der Arbeit zusammenfassen und bietet einen Ausblick auf eine weiterführende Diskussion.

2. The Dispossessed: Ein Paradigmenwechsel

Hauptschauplätze der Geschichte sind die beiden gegensätzlichen Planeten Anarres und Urras; Urras stellt den kapitalistisch geprägten Ursprungsplaneten dar, und Anarres ist einen utopischen Gegenentwurf. 200 Jahre vor Beginn der Erzählung verließen revolutionäre AnarchistInnen ihren kapitalistisch geprägten Heimatplaneten Urras, um auf dem Mond
Anarres eine Kolonie zu gründen, die auf ihren utopischen Idealen fußt. Sie folgten dabei der Revolutionärin Laia Odo, einer Philosophin, deren Schriften nun als höchste Prinzipien gelten, nach denen sich ihre gesamte Moralvorstellung und Lebensweise ausrichtet. Auf Anarres gibt es keinen Staat, keine Polizei, keine Hierarchien4. Auch Eigentum soll es auf Anarres nicht geben, denn keine Person soll mehr besitzen, als eine andere; alles gehört Allen. Laia Odo sagte diesbezüglich: „Willst du einen Menschen zum Dieb machen, mache einen anderen zum Besitzer; willst du Menschen zu Verbrechern machen, mache Gesetze“5. Der Ablehnung von Eigentum liegt das Ideal einer Gesellschaft ohne Egoismen und Hierarchien zugrunde; das was man hat, soll man teilen6. Diesem Idealen zufolge gibt es auch keine Marktwirtschaft und Warenaustausch, sondern den Menschen wird das, was sie brauchen einfach ausgehändigt7. Jedoch leben die BewohnerInnen auf Anarres nicht im Überfluss, im Gegenteil, das Leben ist bescheiden und manchmal sind sie sogar auf den Außenhandel mit Urras angewiesen8.
Der utopische Impuls, die Suche nach dem Neuen, oder gar das Neuartige selbst wird durch den Hauptcharakter Shevek charakterisiert; ein Visionär und Wissenschaftler, der die bestehende gesellschaftliche Ordnung auf seinem Planeten Anarres hinterfragt. Als er aufgrund seiner genialen Erfindungen auf den Planeten Urras eingeladen wird, um einen Preis zu erhalten und an einer angesehenen Universität zu lehren, sieht er sich nicht nur gezwungen, sowohl die dystopischen als auch die utopischen Anteile des Planeten Urras zu entdecken; er muss auch seine eigene Gesellschaft des Planeten Anarres fundamental reflektieren. Jedes Kapitel des Romans wechselt zwischen seinen Erfahrungen auf Urras und Rückblicken auf sein altes Leben auf Anarres, sodass eine Reflexion über beide Gesellschaftsformen und insbesondere über die Mängel revolutionärer Bestrebungen ermöglicht wird. Der Roman beginnt mit seinem Aufbruch nach Urras und endet mit seiner Rückkehr nach Anarres.
Annarres stellt einen Planeten dar, dessen kollektive Erinnerung und Identität auf einem utopischem Aufbruchsgedanken begründet ist. Es wird jedoch nicht nur eine perfekte Wunsch-Gesellschaft abseits der wirklichen Gesellschaft als eine Flucht vor der Realität dargestellt; viel mehr untersucht der Roman die Zwiespältigkeit und die Dilemmata von utopischen, anarchistisch-sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen. Utopie – sofern überhaupt von einer Utopie gesprochen werden kann, was in dieser Arbeit näher erörtert wird- ist in the Dispossessed kein endgültiges Ziel, das erreicht werden kann. Viel eher wird eine solche Utopie-Vorstellung infrage gestellt, denn obgleich die Gesellschaft auf Anarres aus einem kollektiven utopischen und revolutionären, Impuls entstanden ist, so sind ebendieser Gesellschaft autoritäre, anti-anarchistische und anti-revolutionäre Tendenzen und Denkmuster inhärent. Der geniale Physiker Shevek nämlich, der eine revolutionäre Grundhaltung hat und die anarrestische Gesellschaft hinterfragt, fühlt sich auf Anarres nicht gefördert, sondern viel eher ausgebremst; er bekommt wenig Möglichkeiten, seine Talente weiterzuentwickeln:

Keiner im Institut kannte sich so mit reiner Temporalphysik aus, dass er mit Shevek Schritt halten konnte. Er hätte gerne seine Erkenntnisse vermittelt, aber man hätte ihm im Institut bisher weder einen Lehrauftrag erteilt, noch einen Unterrichtsraum zur Verfügung gestellt; das aus Studenten und Mitarbeitern zusammengesetzte Mitgliedersynikat beschied seiner Bitte um einen Raum abschlägig.

4 Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Frankfurt am Main 2017, S.177

Seine Ideen kann Shevek auf Anarres nicht weiterentwickeln, er bekommt keinen Zuspruch. Der Mangel an wissenschaftlicher Förderung ist damit zu begründen, dass Anarres nur das gesellschaftlich anerkannt ist, was unmittelbar der Gemeinschaft zugute kommt; somit ist auch die Kunst nicht frei, da sie nur dann sozial akzeptiert wird, wenn sie für alle nützlich ist10. Dies
veranlasst Shevek, der Einladung nach Urras zu folgen um sich dort zu entfalten und seiner Leidenschaft, der Physik, nachzugehen und entsprechende Förderung zu erhalten. Er konstatiert, dass das Leben auf dem utopischen Planeten Anarres widersprüchlich ist: einerseits besagt die odonische Philosophie, dass jede Person das Recht haben sollte, ihre Individualität zu entfalten und der Arbeit nachzugehen, die ihren Talenten am ehesten entspricht.

Andererseits, so stellt Shevek fest, kommt die scheinbar ideale Gesellschaft auf Anarres diesem Ideal nicht nach, sonst würde es nicht so schwer sein, seine physikalischen Theorien auf dem Planeten weiterzuentwickeln.
Utopisches Denken selbst wird in einer Gesellschaft, die sich auf utopische Ideale gründet, verhindert. Diese Dialektik ist genau das, was Ursula Le Guin’s Roman zu einem bedeutenden Beitrag zum Utopiediskurs macht und mit absoluten Utopie-Theorien früherer PhilosophInnen bricht, wie im folgenden Kapitel näher erläutert wird.

2.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur traditionellen Utopie

Vor über 500 Jahren, im Jahr 1516, erschien Thomas Morus Utopia, ein zentrales Werk in der Geschichte des utopischen Denkens. Mit diesem Werk legte Morus den Grundstein für die westliche Tradition der Utopie. Es stellt einen fiktiven Gegenentwurf zu der Herkunftsgesellschaft des Autors dar und zeichnet das Bild einer idealen Gesellschaft. Der Utopieforscher Richard Saage hält Morus Schrift nicht nur für eine Zusammentragung schöner Gedanken, Wünsche oder Träumereien für eine bessere Welt; er sieht das Werk als eine
politische Handlung. Die Gesellschaft wird grundlegend hinterfragt und die bestehende Ordnung reflektiert. Morus‘ Utopia gilt als klassische Utopie: Sie zeichnet das Bild einer fiktiven, idealen Gesellschaft.

Traditionelle Utopien hatten den Anspruch, Alternativgesellschaften als ideal oder perfekt darzustellen und ließen somit wenig Raum für Kritik und Zweifel zu. Diese paradiesisch oder perfekt wirkenden Totalentwürfe haben zugleich totalitären und autoritären Charakter; sie sind starr, unflexibel und antiindividualistisch. Diese Eigenschaften treffen auf einen Großteil der Beiträge zum utopischen Denken bis einschließlich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Samuel Salzborn weist auf grundlegende, totalitäre Tendenzen im utopischen Denken hin, das aufgrund der Überhöhung der eigenen Wertevorstellungen prinzipiell autoritär ist. Zudem sind utopische Gesellschaftsideen abgegrenzt von der Außenwelt, da diese ihre Sozialstruktur gefährden könnte; jedoch versuchen sie auch eine Gefahr ‚von innen‘ abzuwenden, sodass eine pluralistische Gesellschaft mit Konflikten, verschiedenen Meinungen und Abweichungen vermieden wird. Dies trifft auch auf den Planeten Anarres in the Dispossessed zu; dieser ist
hermetisch zur Außenwelt abgegrenzt, die Kommunikation zu Urras wird streng überwacht. So werden Sheveks Briefe an einen Mathematiker auf Urras von VerwalterInnen des Anarres- Hafen einbehalten, weil sie darin eine Geheimschrift befürchten. Auch Richard Saage weist darauf hin, dass the Dispossessed an das Muster der traditionellen Utopie anknüpft. Insbesondere die Isolation von der Außenwelt ist ein Merkmal, welches auch in der
traditionellen Utopie zu finden ist. Damit geht auch die Konstruktion eines Feindbildes einher, um eine klare Identität gegenüber dem ‚Feind‘ herzustellen; auch auf Anarres herrscht eine ständige Propaganda, die sich gegen Urras richtet.

Jedoch gibt es in the Dispossessed einige fundamentale Unterschiede zu der traditionellen Utopie, wodurch sich die Frage stellt, ob dieses Werk überhaupt als Utopie bezeichnet werden kann. In The Dispossessed wird keine Idealgesellschaft dargestellt, sondern die scheinbar ideale Gesellschaft auf Anarres hat auch viele Kehrseiten. Somit entsteht eine Zweideutigkeit, die dem Roman zugrunde liegt: Einerseits besteht die Vorstellung einer perfekten Gesellschaft, also nach traditioneller Definition einer Utopie, aber andererseits werden gleichzeitig auch ihre Mäkel dargestellt, die in Le Guins Werk auffallend deutlich betont werden19. Dieser Zwiespalt bot seit Veröffentlichung des Romans Anlass für eine Diskussion zur Einordnung dieses Werks. Den Kern der Diskussion hält Peter Seyferth mit folgender Frage treffend fest: „(…) wie soll man etwas mit demselben Begriff benennen, das aber völlig anders ist?“. Der Autor betont jedoch die ständige Veränderung und Erweiterung des Utopiediskurses und ist der Auffassung, dass The Dispossessed einen Paradigmenwechsel darstellt, wie es ihn in der Geschichte des utopischen Denkens schon oft gegeben hat21. Eine Bewertung utopischer Literatur nach Kriterien kanonischer Utopien würde laut Seyferth hingegen wenig Veränderung zulassen.

Trotz der Neuartigkeit dieses Werks sind sich laut Seyferth fast alle AutorInnen, die sich mit dem Roman auseinandergesetzt haben, einig, dass es sich um eine Utopie handelt. Es gibt jedoch auch KommentatorInnen, die gegen eine Bezeichnung von The Dispossessed als Utopie argumentieren. Tony Burns beispielsweise, vertritt die Auffassung, dass Le Guins Werk eher
als ein Roman über utopisches Denken zu definieren ist, statt als eine literarische Utopie selbst: „(…) anders als frühere utopische Werke, ist The Dispossessed ein Roman. Und wie wir sehen werden, gibt es zumindest einige Zweifel daran, dass ein Text sowohl eine literarische Utopie als auch ein Roman zugleich sein kann“24. Auch wenn es verschiedene Ansichten darüber gibt, ob Ursula Le Guin’s The Dispossessed eine Utopie oder eher eine Erörterung über das utopische Denken an sich darstellt, kann konstatiert werden, dass der Roman die Fehlerhaftigkeit der traditionellen Utopie reflektiert. Susanna Layh klassifiziert die Werke Ursula Le Guins sowie
anderer AutorInnen utopischer Literatur der 1970er Jahre nicht als Ablehnung der Utopie selbst, sondern als Kritik an der Tradition der literarischen Utopie in ihrer bisherigen Form. Layh sieht in dieser neuen Form der Utopie-Literatur sogar das Ende der klassischen Utopie.

“Demzufolge könnte man allenfalls vom Tod der literarischen Utopie sprechen, wie sie bislang definiert, kategorisiert oder klassifiziert wurde.“

Layh, Susanna: Schöne neue Welten? Die Rückkehr des Utopischen in dystopischer Gestalt. In: Nitschke,
Peter et al.: Und immer wieder Utopia: Perspektiven utopischen Denkens von Morus bis zur Gegenwart. (=
Aktuelle Probleme moderner Gesellschaften, 23). Berlin, 2018, S.177.

Ursula Le Guin greift ebendiese Fehlerhaftigkeiten des utopischen Denkens in ihrem Roman auf, die insbesondere in der totalitären Auslegung der angestrebten Ideale begründet ist. Die BewohnerInnen des Planeten Anarres, die Anarresti, teilen die kollektive Erinnerung ihrer Entstehungsgeschichte und verehren die Revolutionärin Laia Odo und ihre Philosophie, die als absoluter und ständiger Grundsatz und Richtungsgeber für die gesamte Lebensweise und Organisation der Anarresti dient. Carter Hanson sieht die Problematik nicht in den Idealen oder der utopischen Ideen selbst, auf denen sich die Gesellschaft auf Anarres gegründet hat. Die Problematik besteht laut Hanson in der Totalität der odonischen Philosophie; es gibt auf Anarres keinen Diskurs, keinen Streit, keine Pluralität an Meinungen und politischen Ansichten.

There are no political parties, no diverse ethnic groups or social classes, no mass entertainment media to offer alternative identities to the Odonian one. In the absence of competing cultural schemes or political narratives, Anarresti society has congealed ideologically around the
monumentalized figure of Odo (…)”

Hanson, Carter: Memory’s Offspring and Utopian Ambiguity in Ursula K. Le Guin’s “The Day Before the Revolution” and The Dispossessed. In. Science Fiction Studies, 40 (2013), S. 255.

2.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur traditionellen Dystopie

Die Dystopie ist der Gegenbegriff zur Utopie und stellt eine Anti-Utopie dar.
Kennzeichnend ist, dass die Schattenseiten der Ideale stark betont werden, sich die utopischen Ideen in Alpträume verwandeln und somit ein düsteres Bild einer Gesellschaft gezeichnet wird. Insbesondere im 20. Jahrhundert gewann die Dystopie an großer Popularität, insbesondere durch Klassiker wie 1984 oder Brave New World30. Angesichts der totalitären Regimes im 20.
Jahrhundert ist die Kritik an verheißungsvollen Utopien nachvollziehbar; statt der versprochenen Paradiese oder Idealgesellschaften entstanden Alpträume. Jedoch, so Seyferth, hatte diese Entwicklung, jeden utopischen Ansatz automatisch in eine Dystopie verwandeln zu lassen, eine bremsende Wirkung auf UtopistInnen. Er sieht in der utopischen Literatur der 1970er Jahre, zu der auch the Dispossessed gehört, als den Beginn eines neuen utopischen
Denkens, das sich weder gänzlich in die Kategorien der klassischen Utopie noch der Dystopie eingrenzen lässt. Reis und Bastos sehen die Werke Le Guins ebenfalls als einen neuen Impuls in der Utopie-Literatur, indem sie die Kluft zwischen Dystopie und Utopie schließen.

Dystopien haben eine klare Aussage, nämlich die, dass Utopien grundsätzlich nicht funktionieren. Die Bestrebung, eine perfekte Welt zu kreieren führt regelrecht zu einer gehorsamen und unterworfenen Gesellschaft. Chris Ferns führt an, dass die gesellschaftliche Entwicklung auf Anarres die der klassischen Dystopien ähnelt, da sie sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt, als ursprünglich, zur Gründung der Gesellschaft, beabsichtigt war. Dennoch, so der Ferns, liegt der besondere Unterschied zwischen Le Guin’s Werk und traditionellen Dystopien in der narrativen Struktur. Dystopien trennen die fiktive und die reale Welt strikt und folgern dann, dass die reale Welt der imaginierten Welt zu bevorzugen ist. In the Dispossessed findet sich keine binäre Aufteilung in ‚gute Welt’ und ‚schlechte Welt‘, sondern beide Welten werden in ihren Vor- und Nachteilen dargestellt. Die utopische Gesellschaft wird mit der Ursprungsgesellschaft, die der realen Welt ähnelt, verglichen. Somit wird nicht nur eine utopische Idee diskutiert, sondern diese auch in Relation zur Realität gesetzt, welche dadurch ebenso mitdiskutiert wird. Damit werden den Schlussfolgerungen, die sich aus Dystopien ergeben, nämlich die, dass Utopien prinzipiell schlecht sind, entgegengewirkt. Durch diese narrative, vergleichende Struktur wird ersichtlich, dass sich die Ideale auf dem Planeten
Anarres als Reaktion auf die Ungerechtigkeiten des Planeten Urras entwickelt haben. Doch insbesondere das Ende des Romans stellt keinen düsteren, sondern vielmehr einen hoffnungsvollen Ausblick dar. Sheveks revolutionärer Geist und seine Bestrebung, zu verändern, führen ihn schlussendlich zu dem Entschluss, nach Anarres zurückzukehren. Die Heimreise ist von Vorfreude und Aufregung geprägt:“Er spürte, dass die Quellen seiner Seele und seine Freude wieder flossen. Er war ein Mann, der aus dem Gefängnis entlassen und auf
dem Weg zu seiner Familie war. Nichts, was einem solchen Mann auf der Reise begegnet, gewinnt mehr Realität als ein Lichtreflex“34. Shevek ist sich bewusst, dass er durch seine Reise nach Urras auf seinem Heimatplaneten Anarres nun als Dissident gilt. Dennoch kehrt er zurück und er erwähnt, dass er dort in der Zwischenzeit auch einige UnterstützerInnen gewonnen hat35.
Während seiner Heimreise demonstriert er seine Aufgabe, die er darin sieht, den ursprünglichen revolutionären Gedanken der odonischen Philosophie wiederzuerwecken, sodass Veränderung in einer Gesellschaft, die in ihrer Entwicklung stagniert, wieder möglich zu machen: „Es war von vornherein unsere Absicht – mit unserem Syndikat, meiner Reise, Unruhe zu stiften,
Gewohnheiten zu brechen, die Leute wachzurütteln, zu erreichen, dass sie Fragen stellen. Sich wie Anarchisten verhalten!“. Als er in Anarres ankommt, ist es früh morgens und die hoffnungsvolle Atmosphäre wird durch die Beschreibung des Sonnenaufgangs untermalt. Katherine Cross argumentiert, dass Shevek sich nicht von den odonischen Idealen abwendet,
sondern dass er die Hierarchien und Machtstrukturen ablehnt, die sich in seiner Gesellschaft unbemerkt verbreitet haben38. Die Rückkehr Sheveks nach Anarres liest Cross als einen Appell und eine Schlussfolgerung, nämlich die, dass Utopie für Le Guin ein ständiger Prozess ist, kontinuierliche Veränderung und revolutionärer Impuls. Utopie, so Cross, ist in Le Guins Werken wie the Dispossessed nicht möglich – was jedoch nicht bedeutet, dass es sich bei the
Dispossessed um eine Dystopie handelt. Laut Cross wird durch die Rückkehr Sheveks nach Anarres verdeutlicht, dass Utopie erstrebenswert ist, auch, wenn Utopie nie erreicht werden kann. Dies unterscheidet the Dispossessed im Kern von traditionellen Dystopien, die im Idealismus mehr Gefahr als Potential sahen. Für Cross ist Utopie in the Dispossessed keine Endstation oder ein Ziel, das erreicht werden kann, sondern eine kontinuierliche Bestrebung
danach, auch wenn die Utopie unerreichbar ist. Auch Ferns zieht aus dem Ende des Buches eine ähnliche Schlussfolgerung. Einerseits verhindern die gesellschaftlichen Entwicklungen auf Anarres zunehmend anarchistische Positionen, andererseits entspringt Sheveks revolutionäre
Haltung ebendieser Gesellschaft und ihrer odonischen Philosophie: „Die odonische Gesellschaft war als permanente Revolution gedacht, und jede Revolution beginnt im denkenden Geist. Das alles hatte Shevek durchdacht, in diesen Begriffen, denn sein Bewusstsein war ganz und gar odonisch.“41. Ferns konstatiert, dass permanente Revolution und ständige Veränderung nicht Dinge sind, die man befürchten muss; im Gegenteil, der utopische Impuls begünstigt Erneuerung, um aus sich aus immergleichen, sich wiederholenden Prozessen zu befreien. Im Roman wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Shevek die grundsätzlichen utopischen Ideen auf Anarres nicht ablehnt und diese viel eher als positiv darstellt. Es sind diese Ideale selbst, die ihn dazu veranlassen, seine Gesellschaft zu hinterfragen, die Reise nach Urras
anzutreten und seiner Leidenschaft, der Physik, nachzugehen:

„Deswegen war er sich inzwischen sichter, dass, odonisch gesprochen, sein radikaler, bedingungsloser Wille, etwas zu schaffen, die einzige Rechtfertigung war, die er brauchte. Sein Gefühl, zuallererst seiner Arbeit gegenüber verantwortlich zu sein, schnitt ich nicht, wie er früher gedacht hatte, von seinen Mitmenschen und seiner Gesellschaft ab, sondern verband ihn umso mehr mit ihnen“

4 Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Frankfurt am Main 2017, S.366.

The Dispossessed, so lässt sich aus diesem Kapitel schließen, kann der traditionellen Dystopie nicht zugeordnet werden. Zwar enthält der Roman einige dystopische Aspekte; jedoch wird nicht das utopische Denken selbst als schlecht dargestellt, sondern vielmehr die Umsetzung der utopischen Ideale kritisch hinterfragt. Zudem endet der Roman mit einer hoffnungsvollen
Aufbruchsstimmung, durch welchen das utopische Denken als etwas erstrebenswertes dargestellt wird, anstatt als etwas, das zerstörerische Folgen haben kann, wie in Dystopien üblich ist.

2.3 Die kritische Utopie als Brücke zwischen Utopie und Dystopie

Tom Moylan bezeichnet die Utopie-Werke der 1960er und 1970er Jahre, die aus oppositionellen Bewegungen entstanden, als kritische Utopien. In diesen wird das Potential von Alternativgesellschaften erörtert, während jedoch gleichzeitig auch auf die Einschränkungen des utopischen Denkens hingewiesen wird. Diese Einschränkungen werden mehr oder weniger
auch in den utopischen Gesellschaften selbst sichtbar, sodass diese nicht ausschließlich aus glücklichen Menschen bestehen, sondern auch aus solchen, die unzufrieden sind. Kennzeichnend für kritische Utopien ist, dass sie Problematiken des utopischen Denkens an sich aufdecken und somit direkte Utopie-Kritik üben44. Er argumentiert, dass kritische Utopien insbesondere totalitäre Tendenzen innerhalb politischer Bestrebungen betonen. Kritische
Utopien bewegen sich laut Moylan weg von kapitalistischen und männlich geprägten Hierarchien, hin zum autonomen, revolutionären utopischen Impuls selbst. Sie beschreiben zwar alternative Gesellschaften, aber weisen auch auf die Fehlerhaftigkeiten von verschiedenen Gesellschaftsystemen hin45. Lyman Tower Sargent definierte die kritische Utopie später
ähnlich. Er stellt fest, dass die kritische Utopie eine nicht-existierende Gesellschaft beschreibt, die so dargestellt wird, dass sie als besser als die wirkliche Gesellschaft wirkt. Dennoch ist kennzeichnend, dass diese Gesellschaft mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert ist und
offen steht, ob sie diese lösen kann. Mit dieser Darstellung einer Alternativgesellschaft wird das utopische Denken generell kritisch hinterfragt.

Auf the Dispossessed treffen all diese Kriterin zu. Es handelt sich um eine nicht existierende Gesellschaft, die utopischen Idealen folgt und dennoch – oder gerade wegen dieser Ideale- mit fundamentalen Dilemmata konfrontiert ist. Laut Seyferth wird The Dispossessed in einschlägiger Forschungsliteratur als das beste Beispiel für eine kritische Utopie beschrieben. Ursula Le Guin, so Seyferth, wehrt sich gegen die traditionelle Utopie und übt Kritik an dem Perfektionismus des utopischen Denkens. Seyferth folgert, dass die kritische Utopie einen Mittelweg zwischen der klassischen Dystopie und Utopie darstellt; sie vereint die positiven und negativen Seiten der Utopie und der Dystopie in einem Werk.

3. The Dispossessed: Ein Ausblick

Wie in dieser Arbeit festgestellt werden konnte, bot das bekannteste Werk von Ursula Le Guin, the Dispossessed, ausreichend Stoff für Diskussion. Zentral ist die Frage: Wie ist der Roman einzuordnen? Ursula Le Guin ist es gelungen, einen generellen Zweifel bis zum Ende des Buches aufrechtzuerhalten. Selbst das Ende des Buches gibt trotz seines hoffnungsvollen Untertons keine klaren Antworten darauf, ob die Gesellschaft auf Anarres nun gelungen ist oder nicht. Die Arbeit hat gezeigt, dass das Werk zwar an das Muster der traditionellen Utopie anknüpft, sich jedoch grundlegend von ihr unterscheidet. Die scheinbar perfekte Gesellschaft ist in the Dispossessed ist mit tiefen Problematiken konfrontiert. Damit möchte Le Guin jedoch nicht die utopischen Ideale selbst verwerfen; viel eher stellt das Buch einen soziologischen Erklärungsansatz dar, aus welchen Gründen eine Revolution scheitern kann. Selbst in einer Gesellschaft, die sich auf revolutionären, anarchistischen und utopischen Grundsätzen bildet, gibt es Hierarchien, Grenzen und Unterdrückung – diese sind nur weniger offensichtlich.

Doch auch von der Dystopie kann sich das Werk fundamental abgrenzen; denn so schwerwiegend die Dilemmata auf Anarres auch wirken, ist die Hauptfigur Shevek stets von Hoffnung getragen. Seine Reise und sein Drang zu verändern entspringt einer utopischen Energie, die sich in der durch und durch bürokratisierten Gesellschaft auf Anarres nicht entfalten kann. Dennoch fasst er den Entschluss, am Ende seiner Reise nach Anarres zurückzukehren, um die odonische Philosophie wiederzubeleben und die Mängel der Gesellschaft zu verändern. Der revolutionäre Gedanke steht im Vordergrund des Buches; dieser scheint auf Anarres verloren gewesen zu sein, doch durch Shevek bekommt er wieder neue Kraft.

Der Roman wird häufig als eine kritische Utopie beschrieben; wie in Kapitel 2.3 dargestellt, treffen alle Kriterien auf The Dispossessed zu. Das Werk bildet eine Brücke zwischen Utopie und Dystopie und reflektiert sowohl die Chancen als auch die Fehlerhaftigkeiten utopischer Zielsetzungen. Die von Ursula Le Guin geschaffene Utopie ist selbstreflexiv, indem sie ständig
Vor- und Nachteile abwägt. Damit lässt sich der Roman am ehesten als kritische Utopie bezeichnen. Zukünftige Diskussionen könnten sich mit der Bedeutung des Endes des Buches befassen, also damit, was nach der Wiederentdeckung der revolutionären Idee passiert. Steht das Ende für den
Beginn einer neuen Utopie, einem Anarres hinter Anarres? Oder stellt das Ende eine Art Kreislauf dar, die dem utopischen Denken inhärent ist?